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Andrea Jahn
Mythen der Kunst oder: Das Kunstwerk als Unfallopfer

“Meine Werke sind in einem ständigen Zustand der Veränderung. Ich bin nicht daran interessiert mit meinen Werken einen Idealzustand zu erreichen. Wenn die Menschen darüberlaufen, wenn der Stahl rostet, der Ziegel zerfällt, die Materialien verwittern, wird das Werk seine eigene Aufzeichnung dessen, was ihm widerfahren ist.“

Was Carl Andre über seine in den 1960er Jahren entstandenen Squares schreibt, nimmt Sabine Groß in ihrer großen Bodenarbeit Gefunden (2008) beim Wort. Von den minimalistischen Metallplatten, die sich bei Andre ursprünglich zu einem raumgreifenden Quadrat zusammenfügten, sind hier nur noch angerostete Reste geblieben, mit Fehlstellen und seltsam auslaufenden Kanten. Scheinbar. Das Kunstwerk ist aus den Fugen geraten, hat seine ideale Form verloren und zurückgeblieben ist ein Rest, ein Fragment, in das sich die Zeit eingeschrieben hat. Wenn wir diesem äußeren Schein glauben, dann ist in Carl Andres Arbeiten genau das angelegt, was Groß in ihren Skulpturen so drastisch umsetzt, „das Werk wird seine eigene Aufzeichnung dessen, was ihm widerfahren ist.“ Und doch mutet dieser Anspruch seltsam an, wenn wir uns frühere Werke und Konzepte von Sabine Groß in Erinnerung rufen, die sich selbstbewusst-kritisch oder auch ironisch mit Kunstgeschichte auseinandersetzen, und so gar nichts mit dem Pathos minimalistischer Kunst gemein haben. Dazu gehören Groß’ Licht- und Soundinstallation Das Gelbe Haus (2004), die Videoinstallation Black Scream (2004) oder auch Melancholie Modern (nach Dürer) (2006), in denen sich die Künstlerin mit Van Gogh, Munch oder Dürer jedes Mal ein starkes Stück Kunstgeschichte vornimmt, um es aufzulösen und mit aktuellen künstlerischen Mitteln zu kommentieren und einer neuen Wahrnehmung auszusetzen.

Mit ihrer scheinbar zerstörten, im Verfall begriffenen Skulptur Gefunden, bewegt sich Sabine Groß auf neuem Terrain, denn es geht ihr um die Idee, dass ein kunsthistorisch bedeutendes Werk unserer Zeit in einem neuen kulturellen Zusammenhang in der Zukunft aufgefunden und als Ausgrabungsstück präsentiert wird. Damit stellt sich die Frage, ob das so verfremdete Objekt noch dem entspricht, was wir ihm als Werk zuschreiben und wie sich dabei unsere eigene Wahrnehmung verändert.

Dass es sich dabei nicht wirklich um ein Fundstück handelt, wie der Titel zunächst nahelegt, lässt sich bei näherer Betrachtung erkennen: Gefunden besteht keineswegs aus verwitterten Metallplatten, sondern ist eine gegossene Skulptur aus Acrylharz, die erst durch eine aufwändige Patina als das erscheint, was sie nicht ist. Dabei legt die Künstlerin sehr großen Wert auf die Rekonstruktion von Oberflächen, das heißt, sie strebt eine Wirkung an, die darauf aus ist uns zu täuschen. So schafft sie eine virtuelle Realität, die an die Stelle der Materialität tritt. Form, Material und Bedeutung treten in eine kontingente Beziehung, die Einheit von Oberfläche und Material löst sich auf. Wenn wir davon ausgehen, dass Skulptur historisch gesehen maßgeblich über ihre Materialität definiert wird, dann geht es Sabine Groß um nichts Geringeres, als die Materialität und damit die Strukturen in Frage zu stellen, die der Skulptur ihre historische Grundlage und Bedeutung verleihen.

Während ihre eigenen Objekte uns auf den ersten Blick glauben lassen, dass es sich um wirkliche Relikte und Ausgrabungsstücke handelt, erscheinen sie gleichzeitig so überzeichnet, dass wir ihnen und dem ihnen widerfahrenen Unheil misstrauen sollten. Tatsächlich sind die Skulpturen von Sabine Groß so bearbeitet, dass sie gewisse Widersprüche aufwerfen: Ohne Titel (Weißer Kubus) (2008) steht mit seiner glänzenden, makellosen Oberfläche scheinbar ganz im Zeichen einer minimalistischen Ästhetik, die dann auf einer Seite gebrochen wird, wo der Kubus sich nach außen wölbt und aufgerissen ist. Die Skulptur gibt in dieser Öffnung ein organisch anmutendes, rohes Inneres zu erkennen, das ihrem minimalistischen Äußeren diametral entgegensteht. Allerdings sind Sabine Groß’ ‚Zerstörungen’ das Ergebnis ausgefeilter künstlerischer Gestaltung: die „ausgefransten“ Ränder des verformten Kubus sind so bearbeitet, dass sie eine kalkulierte Ästhetik erkennen lassen, die nicht von aggressiven Eingriffen herrührt, auch wenn es so scheint.

Würde Groß uns hier tatsächlich eine zerstörte Skulptur von Robert Morris oder Donald Judd präsentieren, stünde sie in direkter Nachfolge zu Georges Batailles Base Materialism und der amerikanischen Anti-Form-Kunst. Beide Positionen drehten sich um die Beschäftigung mit einfachen oder minderwertigen Materialien, um die Erhabenheit des modernistischen Materialismus zu brechen und oppositionelle Kategorien wie schön/abstoßend, wertvoll/minderwertig, usw. aufzulösen. Nach Georges Bataille wendet sich Base Materialism gegen den Idealismus in der Kunst. Er wirft den Materialisten vor, toter Materie – also klassischen künstlerischen Materialien – absolute Priorität und Bedeutung einzuräumen. Das Material steht für sich und damit auf erhabener Position – über den Dingen! Für Bataille dagegen ist es gerade die Materialität der Dinge, die organische Materie, die uns als Betrachter psychisch anspricht, „Materie ist verführerischer Abfall, der an unsere kindlichsten Gefühle appelliert, da er zu einem Schlag ausholt, der eine regressive, erniedrigende Wirkung zeigen kann.“

Sabine Groß’ Skulpturen erweisen sich dagegen als äußerst hintersinnige Bearbeitungen von Objekten, die den Base Materialism zwar zitieren, aber faktisch nur perfekt nachahmen.

Auch Groß’ Arbeiten Kampfplatz oder TeamStar 175/70 R13 (2006) folgen diesem Prinzip. Der scheinbar gequetschte, spritzende Matsch ist eingefasst in eine stilisierte plastische Kontur, die aus der organischen Struktur erst ein Objekt macht. Es geht also nicht darum, die Spuren einer Kampfhandlung darzustellen oder eine Reifenspur abzubilden, sondern durch geschickte Verarbeitung eigentlich wertloser Materialien Echtheit vorzutäuschen und dieses Material einer respektlosen, aggressiven Behandlung auszusetzen, um etwas scheinbar Authentisches zu schaffen. Gleichzeitig erscheinen auch die „Pfützen“, „Matschskulpturen“ und „Reifenspuren“ nicht als naturalistische Darstellungen von Materie, denn die Künstlerin arbeitet auch hier mit starken Überzeichnungen und einer Farbgebung, die ihre vermeintlich natürlichen Objekte verfden. Das authentisch Reale ist in Wirklichkeit also komplett künstlich arrangiert.

Auf diese Weise konterkariert sie die Materialästhetik von Anti-Form (etwa Robert Rauschenbergs Dirt Painting 1953 oder Robert Morris’ Untitled (Dirt) 1968) und übrig bleibt ein Objekt, das Kunstgeschichte zitiert, ohne den historischen Bedeutungsgehalt seiner Form zu übernehmen. Sabine Groß dekonstruiert kunsthistorische Positionen und Ideologien, um das mit kunstgeschichtlicher Bedeutung aufgeladene Werk in einen anderen Zustand und Zusammenhang zu überführen, in dem wir uns den ästhetischen und inhaltlichen Fragen, die bekannte Kunstwerke aufwerfen, neu stellen müssen. Was passiert, wenn die makellose Oberfläche eines minimalistischen Kubus aufgebrochen wird? Welchen ästhetischen Gradmesser müssen wir anlegen, wenn sich das berühmte Werk nicht mehr den bisherigen Erwarungen fügt? Dürfen wir seiner Form und Erscheinung überhaupt noch trauen?

Was geschieht bei der Betrachtung von Duchamps Fountain, wenn das Pissoir bei Sabine Groß in Fäkalien zu versinken droht, die ihrerseits aus Acryl bestehen? Im Jahr 1917, als Duchamp das mit „R.Mutt“ signierte, umgedrehte Urinoir bei der Ausstellung der Independents in New York einreichte, wurde es von der Jury mit der Begründung abgelehnt, es sei „unmoralisch und vulgär“. Diese Provokation bleibt auch bei Groß zunächst bestehen. Das Verworfene findet ein Bild, bleibt aber unwirksam, weil seine organischen Qualitäten auf die Oberfläche reduziert sind und das ursprüngliche Objekt des Anstoßes, das Pissoir, nur noch als Fragment vorhanden ist.
Während es Duchamp darum ging, einen Gebrauchsgegenstand in den Ausstellungskontext zu überführen, um ihn damit überhaupt erst als Kunstwerk sichtbar zu machen, fragmentiert Sabine Groß eben dieses – für uns bereits zur Ikone erhobene – Kunstobjekt und tut so, als würde sie es in seinen ursprünglichen Zusammenhang klempnerischer Wirklichkeit zurückbefördern. Schlussendlich zeigt sich das Objekt als künstlerische Inszenierung und erweist sich damit ebenso konstruiert wie die idealisierte Form selbst.
Sabine Groß formuliert mit ihrer Kunst über die Rezeption von Kunst einen ausgesprochen selbstbewussten, kritischen Umgang mit etablierten künstlerischen Positionen, zu denen inzwischen auch radikale, antimodernistische Äußerungen, wie Dada und Anti-Form gehören. Hinter dieser Haltung steht eine sehr aktuelle, zeitgemäße Auffassung von Kunst, die den Mythos des Werks als Konstruktion begreift und auch als solche zu sehen gibt. Oder, um mit Roland Barthes zu sprechen, „Der Mythos ist ein Wert, er hat nicht die Wahrheit als Sicherung; nichts hindert ihn ein fortwährendes Alibi zu sein (…) der Sinn ist immer da, um die Form präsent zu machen, die Form ist immer da, um den Sinn zu entfernen. (…) Ich kann mich über diesen Sachverhalt nur dann wundern, wenn ich auf den Mythos ein statisches Verfahren der Entzifferung anwende, kurz, wenn ich seiner eigenen Dynamik Widerstand leiste.“ Sabine Groß gelingt es mit ihren Skulpturen unseren Blick anzuhalten und sensibel zu machen für die Mechanismen der Kunstgeschichte, die Kunstwerke in einen Mythos kleiden, der ihre eigentliche Aussage und Entstehung überlagert und naturalisiert. Roland Barthes beschreibt als das „Widerwärtige im Mythos“, dass dieser „Zuflucht nimmt zu einer falschen Natur“.
2006 entwickelt die Künstlerin eine Serie von Wandobjekten (Lambdaprints auf Aluminium), die aufgerissene Leinwände zeigen, wobei die entstandenen Risse so angelegt sind, dass sie eine neue, ästhetische Komposition entstehen lassen. Hier bestimmt eine ‚Leerstelle’, das Loch in der Leinwand, das Bild, während die ursprüngliche Farbe oder das Motiv (einer Landschaft) zurückgedrängt und fragmentiert werden. „Das Bild ist das, was kein Bild ist“ kommentiert die Künstlerin dieses Vorgehen. Das heißt, wenn sich das ursprüngliche Bild aufgelöst hat, wenn es dekonstruiert worden ist, dann tritt an seine Stelle etwas, das das Bild als Konstruktion zeigt: eine Rückseite der Leinwand, eine Leerstelle, die eben nicht mehr aus Keilrahmen und Leinwand besteht, sondern nur noch deren Reproduktion ist – als Print, der zugleich ihre Umrisse und Plastizität nachahmt.
Wenn es Lucio Fontana in seinen Concetti Spaziali um die Durchdringung der Bildfläche und die Erweiterung des Bildes in den Raum ging, dann führt Sabine Groß dieses Konzept ad absurdum, indem sie den durch die aufgerissene Leinwand entstehenden Raum hinter dem Bild selbst zum Bild macht.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Brand-Bilder, wie Brandloch (2005), das ein am Computer konstruiertes Abbild eines Brandloches zeigt. Ähnlich wie in den aufgerissenen Leinwänden, lenkt auch hier der Trompe-l’oeil-Effekt den Blick hin und her zwischen der Darstellungsebene und der Ebene hinter dem Bildträger, ohne eine Entscheidung darüber zuzulassen, was hier dargestellt ist, und wo das Dargestellte sich eigentlich befindet. Ihre Wahl fiel deshalb auf das Motiv eines Brandlochs, so die Künstlerin, „weil es nicht nur formal, sondern auch inhaltlich mit der An- und Abwesenheit von Dargestelltem und Nicht-Darstellbarem spielt, sozusagen Leere repräsentiert. (…) Auch in der Materialität des Bildes kommt diese Widersprüchlichkeit zum tragen, indem das Bild zwar in einem fototechnischen Verfahren produziert wurde (Lambdaprint), aber nie mit einem Fotoapparat in Berührung kam.“
Und auch in ihren jüngsten Wandarbeiten Der Morgen nach der Sintflut und Bild konfrontiert uns Groß mit Kunstwerken, die scheinbar dramatischen Veränderungen ausgesetzt waren: leere, von Wasserflecken überzogene Leinwände, die aussehen, als hätte man sie in Bruchstücken mitsamt der sie umgebenden Wand vom Unglücksort gerettet. Mit dem Titel Der Morgen nach der Sintflut verweist die Künstlerin jedoch nicht nur auf eine Katastrophe, die auf dem Kunstwerk ihre vernichtenden Spuren hinterlassen hat. Vielmehr bezieht sich Groß erneut auf die Kunstgeschichte, indem sie mit dem Titel (The Morning after the Deluge) ein Werk von William Turner zitiert, dessen aquarellartige, sich auflösende Malerei auch den Charakter ihres eigenen Objekts bestimmt.
Doch was wir für zerstörte Gemälde halten, ist Skulptur. Die Leinwand besteht aus Acrylharz und der „Wasserfleck“ ist Tee. Mit diesen nicht-malerischen Mitteln geht es der Künstlerin darum einen Bildraum herzustellen wo Fläche zu vermuten wäre und so die Entscheidung über Zwei- und Dreidimensionalität zu verunklären. Was bei den Bodenskulpturen wie schwere Metallplatten anmutet, ist leicht. Was wie Leinwand erscheint, hat Gewicht. Nicht ohne Ironie betrachtet Groß eingefahrene Oppositionen, wie Original/Fälschung, Vorbild/Abbild oder die „Wirklichkeit“ zwei- bzw. dreidimensionaler Objekte. Auch ihr „Drama I“ ist dafür ein wunderbares Beispiel: Der Keilrahmen eines monochromen Gemäldes ist an mehreren Stellen gebrochen und die Leinwand so in sich zusammengesunken, dass sich in einer tiefen Falte Farbe gesammelt hat, die aus dem Bild herauszulaufen scheint. Die Künstlerin hat die Materialität der Farbe wörtlich genommen und die Bedeutungsschwere Konkreter Kunst so ins Plastische übertragen, dass sie vor unseren Augen buchstäblich in sich zusammensinkt.
In all diesen Werken von Sabine Groß äußert sich ein radikaler Anspruch: die Mythen und Ikonen der Kunst in ihrer Konstruiertheit vorzuführen, die fester Bestandteil kunsthistorischer Praktiken ist. Und zu zeigen, dass das Kunstwerk selbst in diesem Prozess eine dramatische Veränderung erleidet. Es wird zum „Unfallopfer“ einer Rezeption, die ihre eigenen Interessen verfolgt. Wenn Groß in ihren Skulpturen Oberfläche und Material voneinander löst, entzieht sie historischen Definitionen von Skulptur die Grundlage und befreit das Kunstwerk von einem Pathos, das seiner Mythisierung Vorschub leistet. An deren Stelle treten bei Groß keine neuen Wahrheiten, sondern Artefakte, die von der Einsicht geprägt sind, dass es zwischen Form, Material und Bedeutung nur eine kontingente Beziehung geben kann.

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